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Fiktion & Wirklichkeit

Wahr oder erfunden?

Goldene Träume erzählt eine fiktive Geschichte, die von wahren Begebenheiten und Persönlichkeiten inspiriert ist. So sind die Zustände im Dr. von Haunerschen Kinderspital, in der Residenzstadt München sowie der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität und an allen Schauplätzen möglichst realitätsnah nachgezeichnet.

Historische Personen wie zum Beispiel Prinzessin Ludwig, Direktor von Ranke und Oberarzt Doktor Herzog, der ehrenwerte Anatom Professor Rückert, die gestrenge Oberin Amalberga, die in Wahrheit Audoena hieß, und viele andere tauchen als Nebenfiguren auf oder werden – wie der Münchner Franz Marc – manchmal nur am Rande erwähnt.

Die außergewöhnlichen Lebenswege von Lulu, Elsa und Fanny sind erfunden, orientieren sich jedoch stark an denen der ersten immatrikulierten Medizinstudentinnen der Ludwig-Maximilians-Universität.

Auch Änny Geissler-Lee gab es wirklich. Sie wird im Bericht des Vereins für Fraueninteressen des Jahres 1900 als Mitglied geführt, wohnte aber in der Schellingstraße. Ob sie wirklich so unkonventionell war, wie in GOLDENE TRÄUME beschrieben, und ihr Glück als Schauspielerin versuchte, darf jedoch bezweifelt werden.

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Marienplatz 1897 (Stadtarchiv: DE-1992-FS-AB-STB-022-04

Die Bescherung in den Krankensälen des Kinderspitals fand damals tatsächlich um zehn Uhr vormittags an Heiligabend statt. Wortwörtlich heißt es im Jahresbericht von 1898: Die Freude so vieler kranker, oft todkranker Kinder, die leuchtenden Auges sich an Baum und Gaben nicht sattsehen können, das ist ein Bild, das man nicht so leicht wieder vergessen wird. Allerdings war Prinzessin Ludwig, die damalige Schutzpatronin des Unterstützungsvereins, wohl nicht anwesend, denn das hätte Professor von Ranke garantiert in seinen jährlichen Berichten ebenso erwähnt, wie er Krankenstände, Verpflegtage und -kosten pro Kind, Herkunft der Patienten, bauliche Maßnahmen, Streitigkeiten mit dem Magistrat und alle sonstigen besonderen Ereignisse akribisch in seinen Aufzeichnungen festhielt. Die meisten Namen von Assistenz- und Oberärzten sowie Maschinisten und Hausdienern, die als Personal von Kinderklinik und Universitäten im Buch auftauchen, stammen aus den entsprechenden Chroniken.

Was die Zustände in der Residenzstadt München angeht, so haben mir historische Fotografien und besonders auch Zeitungsberichte geholfen, die Zeit lebendig werden zu lassen. Auch einige sehr gute Bücher über das alte München und die Prinzregentenzeit gibt es. Eine Auswahl der für mich wichtigsten Titel findet man hier. So einige Stunden habe ich natürlich auch in Staatsbibliothek, Stadtarchiv, Staats-, Hauptstaats- und Kriegsarchiv und dem Archiv der LMU verbracht, um wenigstens eine vage Vorstellung davon zu bekommen, wie es damals zugegangen ist.

Im Adressbuch der Stadt München von 1900 ist auf fast zweitausend Seiten alles festgehalten, was man als Münchner wissen musste. Von Adressen, Hauseigentümern, Einwohnerzahlen pro Bezirk, Postämtern, Kutschenwartestellen, Radfahrschulen, Tramlinien, Vereinen, Geschäften, Handwerkern, Obdachlosenasylen über Regeln zum Verhalten im Straßenverkehr und, und, und findet man fast alles. Eine schier unerschöpfliche Quelle, dank der ich die von Rankes, die Herzogs, die Hebamme Babette Rauch oder die von und zu Aufseß und noch einige andere dort unterbringen konnte, wo sie damals tatsächlich gewohnt haben. Es stimmt übrigens, dass Lulus Vater mindestens bis 1902 keinen Telefonanschluss in der Privatwohnung installieren ließ, der gute Onkel Herzog und seine erfundene Tochter Ida dagegen schon.

Für die erste Tramfahrt zum Volksgarten musste ich mir dennoch weitere Unterstützung holen. Klaus Onnich, Archivleiter des Vereines der Freunde des Münchner Trambahnmuseums, hat mir so einige Detailfragen beantwortet. Vielen Dank dafür.

 

Und was war mit Strom, Wasser, Heizung und Licht? Im damaligen München existierten alle möglichen Arten der künstlichen Beleuchtung parallel. Dasselbe gilt für Warmwasserversorgung, Heizungen und Lüftungen. In Privatwohnungen und -häusern gab es elektrisches Licht jedoch erst ab 1899, und es dauerte bis in die Fünfzigerjahre, bis es flächendeckend installiert war. Für die Geschichte macht es aber kaum einen Unterschied, ob Lulu, Elsa oder Fanny nun den Schalter für elektrisches Licht umdrehen oder die Gasbeleuchtung anknipsen. Würden die drei jungen Damen hingegen in der Au wohnen, müssten sie noch weitaus öfter den Glühstrumpf anzünden.

München war ab 1900 in vierundzwanzig Stadtbezirke eingeteilt, die nicht nur Nummern, sondern auch Namen hatten. Abweichend davon gab es verschiedene Bezeichnungen für einzelne Stadtviertel. Das ist durchaus nicht so leicht abzugrenzen. Ich habe für dieses Buch die Namen der Stadtbezirke verwendet, wie sie von der Polizei eingeteilt waren. Eine Ausnahme gibt es allerdings: Das Schlachthofviertel, zu dem die Lindwurmstraße und somit das Haunersche Kinderspital wie auch viele andere medizinische Einrichtungen gehörten, habe ich als Klinikviertel bezeichnet – ebenfalls eine gängige Bezeichnung damals, aber eben nicht der offizielle Bezirksname.

Was die Prostitution in München und generell die Härte eines Frauenlebens zu der Zeit angeht, muss ich mich bei Sybille Krafft bedanken, die in Zucht und Unzucht – Prostitution und Sittenpoli­zei im München der Jahrhundertwende sowie in Frauenleben in Bayern – Von der Jahrhundertwende bis zur Trümmerzeit sehr genaue Bilder zeichnet.

Die Barmherzigen Schwestern haben sich von 1853 bis 1981 im Haunerschen Kinderspital um Krankenpflege und Hauswirtschaft gekümmert. Ihre markanten Flügelhauben sind vielen Münchnerinnen und Münchnern sicherlich noch im Gedächtnis. Dr. Susanne Kaup, Archivarin der Barmherzigen Schwestern, hat mich mit vielen wichtigen Informationen versorgt, für die sie manchmal tief ins Archiv eintauchen musste. Sogar mit Generaloberin Rosa Maria Dick durfte ich ein Gespräch im Mutterhaus in Berg am Laim führen. All das hat mir sehr geholfen, den dort herrschenden Geist zumindest ein wenig zu spüren.

Haarsträubend war damals die allgemeine Meinung über die Studierfähigkeit der Frau. Wer denkt, ich hätte übertrieben, sollte sich unbedingt Theodor Ludwig Wilhelm Bischoffs Schrift Das Studium und die Ausübung der Medicin durch Frauen aus dem Jahr 1872 zu Gemüte führen. Heutzutage liest es sich wie Satire, damals jedoch war es bitterer Ernst. Bischoff war im Übrigen ein hoch angesehener Anatom an der Universität München und nur einer von vielen Wissenschaftlern seiner Zeit, die sich gegen das Frauenstudium aussprachen. Natürlich gab es auch andere. Arthur Kirchhoff zum Beispiel erstellte ein Gutachten, das die Befähigung der Frau zum wissenschaftlichen Studium beweisen sollte. Die Akademische Frau erschien 1897. Darin kamen Universitätsprofessoren aus allen Fakultäten, aber auch Lehrer und Schriftsteller zu Wort. Dieses Gutachten fiel deutlich positiver aus, dennoch blieb die Skepsis groß. Am allermeisten hat mich jedoch das Heftlein des Neurologen und Psychiaters Paul Julius Möbius schockiert, das erstmals im Jahr 1900 erschien. Durchaus in provokanter Absicht zu Papier gebracht, erreichte er mit seiner zwanglosen Abhandlung Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes große öffentliche Aufmerksamkeit und musste sein Werk immer wieder neu auflegen. Aus den gerade mal dreiundzwanzig Seiten dampft extreme Herablassung gegenüber uns Frauen, flankiert von Rassismus und anderen haarsträubenden Weltanschauungen. Unfassbar!

Dass Professor von Ranke nicht in dasselbe Horn blies, hoffe ich sehr. Laut Personalverzeichnis der Ludwig-Maximilians-Universität war Lulus Vater außerordentlicher Professor, Direktor der königlichen Universitäts-Kinderklinik und Poliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital, ordentlicher Beisitzer des Medizinal-Comités und des Gesundheitsrates der Stadt München, Ritter des Verdienstordens der Bayerischen Krone, Ritter I. Klasse des Verdienstordens vom Heiligen Michael, Inhaber des Erinnerungszeichens für Civilärzte 1866 und des Verdienstkreuzes für den 1870/71er Krieg, Ritter des K. Preußischen Kronenordens IV. Klasse, Inhaber des ... Es geht noch doppelt so lange weiter. Auszeichnungen und Ehrenzeichen waren damals hip, so viel steht fest.

Aber was ist mit Lulu? Professor von Ranke hatte tatsächlich eine Tochter, die Luise hieß. Sie starb sehr jung, deshalb durfte Lulu als extreme Nachzüglerin ihren Platz einnehmen. Ob ihr Bruder Fred zu den ewig Gestrigen zu zählen war ... man weiß es nicht. Jedenfalls sind Lulus Geschwister allesamt reale Personen, die ich aber mit erfundenen Eigenschaften und ausgedachten äußeren Merkmalen ausgestattet habe, wie es mir gefiel. Mögen mir die Nachkommen diese Unverschämtheit verzeihen. Dass Lulus Vater und Professor Herzog nicht das allerbeste Verhältnis zueinander hatten, entspricht hingegen ebenso der Wahrheit wie Herzogs umgängliche Art mit Patienten und Studenten sowie seine Opferbereitschaft für das Spital. Fiktion und Wirklichkeit vermischen sich also immer wieder.

Bei den medizinischen Details und Behandlungsmethoden habe ich versucht, alles möglichst so darzustellen, wie es nach damaligem Wissenstand gemacht wurde. Die nötigen Informationen stammen aus diversen Lehrwerken für Studenten und Ärzte, von denen ich einige alte Ausgaben auf meinem Büchertisch stehen habe, die aber vereinzelt auch digitalisiert in Internet-Archiven zu finden sind, was eine enorme Erleichterung war. Dennoch stand nicht für jedes Jahr und jede medizinische Disziplin ein Nachschlagewerk zur Verfügung, es kann – auch wenn ich hoffe, dass es nicht so ist – daher sein, dass es einige Medikamente und Verfahren noch gar nicht gab, während andere schon wieder überholt waren. Die Medizin schreitet voran. Stetig. Deshalb waren die Ausgaben der Münchener Medizinischen Wochen­schrift (MMW), die Professor von Ranke mit einigen Kollegen herausgab, eine sehr willkommene und schier unerschöpfliche Quelle. Von Rankes Periodikum MMW besteht übrigens heute noch als Fusion mit der Zeitschrift Fortschritte der Medizin fort. Den Schwangerschaftstest nach Aschheim/Zondek, bei dem man den Urin von Frauen Mäusen unter die Haut spritzte, habe ich allerdings wissentlich um fast dreißig Jahre vorverlegt. Sorry. Es hat einfach zu schön gepasst.

 

Weil ich als Nichtmedizinerin sowieso oftmals etwas falsch verstehe oder interpretiere, bin ich einer Person von Herzen dankbar, die alle medizinischen Szenen in diesem Buch kontrolliert hat: Clarissa Bill. Eine engagierte, zielstrebige junge Frau, die sehr gut Vorbild für Elsa, Lulu und Fanny hätte sein können. Als ich angefangen habe zu recherchieren und zu schreiben, war sie noch Medizinstudentin, inzwischen arbeitet sie als internistische Assistenzärztin in einer Münchner Klinik und ist mit ihrer Doktorarbeit fertig. Manchmal konnte Clarissa nicht glauben, wie brachial die Behandlungsmethoden damals waren, deshalb sind wir recht bald dazu übergegangen, dass ich ihr zur ausformulierten Szene immer auch die Originalquelle mitgeschickt habe.

An dieser Stelle muss ich erwähnen, dass die Corona-Pandemie auch ihre guten Seiten hatte. Das Institut für klinisch-funktionelle Anatomie in Innsbruck hat deshalb nämlich begonnen, die anatomische Präparation von menschlichen Strukturen auf Video aufzuzeichnen und ins Netz zu stellen. Wer so einen Sezierkurs also einmal fast live miterleben will, dem kann ich den Innsbrucker YouTube-Kanal wärmstens empfehlen. Manche Ausschnitte habe ich mir so oft angesehen, dass ich die Stimme von Hannes Stofferin wohl zu jeder Zeit und überall auf der Welt wiedererkennen würde.

Zur Alten Anatomischen Anstalt in der Schillerstraße 25, wo Fanny sich bei ihrer ersten Präparierübung vor Professor Rückert beweisen muss, gab es nur sehr wenig Material. In Die Universität München – Ihre Anstalten, Institute und Kliniken aus dem Jahr 1928 fand ich zwar eine Abbildung mit kurzer Beschreibung, aber all die Details zum katastrophalen Platzmangel stammen aus der Eröffnungsrede bei der Einweihung der Neuen Anatomischen Anstalt in der Pettenkoferstraße. Gehalten wurde diese von – Tataa! – Professor Rückert, der darin anführt, warum der Neubau der Anatomie so dringend notwendig war und doch so oft aufgeschoben wurde. Zum Thema Leichenkonservierung hatte er ebenfalls einiges zu sagen.

Es existiert mindestens ein Beweisfoto, dass sich damals Frauen als Studenten verkleidet haben, um ihre Träume zu verfolgen. Eine gewisse Zofia Lubanska-Grzymala tat dies, um an der Königlich Bayerischen Akademie der Bildenden Künste zu studieren. Das Foto wurde im Jahr 1911 aufgenommen, denn die Kunstakademien öffneten ihre Türen für Studentinnen noch später als die Medizinische Fakultät – nämlich erst mit Einführung des Frauen-Wahlrechts 1919. Die Münchner und die Düsseldorfer Kunstakademien zögerten es sogar noch länger hinaus, denn mit der Unterzeichnung der Weimarer Verfassung im August 1919 mussten sie sich erst im darauffolgenden Jahr zur Bewerbungsmöglichkeit für Frauen gesetzlich verpflichten. Sie haben es also bis zum Letzten ausgereizt, den Damen den Zutritt zu verweigern. Die Malweiber sollten in ihren teuren privaten Malschulen und Damenakademien bleiben. Beschämend, oder?

Und wer glaubt, früher wären die Herren Studenten fleißiger gewesen als heute, dem sei hier noch mal gesagt: Studiosus est ani­ mal aut nihil aut aliud agens. Der Student ist ein Tier, das entweder nichts tut oder nicht das, was es soll. Darüber und über den deutschen Studenten im Allgemeinen hielt ein gewisser Philosophieprofessor Ziegler Ende des 19. Jahrhunderts in Straßburg Vorlesungen. In einer Stadt wie München, in der die gehobene Gesellschaft das süße Nichtstun zelebrierte, wo die Schwabinger Bohème definitiv zu feiern wusste, fand der Schlendrian einen äußerst guten Nährboden. Des is g’wiss!

Der Verein für Fraueninteressen hieß bei seiner Gründung durch Anita Augspurg und Sophia Goudstikker im Jahr 1894 noch Gesellschaft zur Förderung geistiger Interessen der Frau. Ihn gibt es heute noch! Wer die Homepage besucht, findet dort das Drachenornament der Fassade des Hof-Ateliers Elvira, das von Augspurg und Goudstikker, die damals als Paar zusammenlebten, als Photographische Anstalt gegründet und durch ihre Arbeit in der Frauenbewegung berühmt wurde. Leider ist der Drache, der eigentlich ein Tier der Unterwasserwelt ist, irgendwann aus dem Stadtbild verschwunden. Details aus der geschilderten Generalversammlung Anfang März 1899 sind dem Jahresbericht des darauffolgenden Jahres entnommen, also um ein Jahr vorverlegt. Die Mitgliederabende haben im Restaurant Eckel aber wie beschrieben stattgefunden. Kluges Debattieren zu üben würde auch heutzutage nicht schaden.

 

Den Prévost, und damit meine ich Les Demi­vierges, Marcel Prévosts gefeierten Roman Starke Frauen, hat natürlich Franziska Gräfin zu Reventlow ins Deutsche übersetzt – nicht unsere Fanny. Allerdings hatte die Fanny zu Reventlow zu genau derselben Zeit in München ebenfalls mit Geldsorgen zu kämpfen, lebte als alleinerziehende geschiedene Frau in verschiedenen Wohnungen in Schwabing und musste sich zeitweise prostituieren, um über die Runden zu kommen. Auch ihr reichte das Geld, das sie mit Übersetzungen, Schriftstellerei und als Schauspielerin verdiente, hinten und vorne nicht. Als höhere Tochter aus gutem Haus legte sie einen überaus schillernden, absolut unkonventionellen Lebensweg hin, den sie zum Glück in Tagebüchern festgehalten hat, sonst wüsste vermutlich niemand mehr so genau, durch welche Höhen und Tiefen sie einst ging.

Radfahren war in der Zeit, als Lulu, Fanny und Änny es lernten, bei Weitem nicht so einfach wie heute. Zwar ließ sich der Amerikaner A. P. Morrow bereits 1889 den Freilauf patentieren, der 1898 durch eine Rücktrittbremse ergänzt wurde, aber deshalb waren längst nicht alle Fahrräder sofort damit ausgestattet. Im Buch Der Radfahrsport, 1897 von Dr. Paul von Salvisberg herausgegeben, steht alles über diesen schönen Sport und seine Ausübung, wie es damals üblich war, und zwar – inklusive einer genauen Anleitung mit Abbildungen, wie man es – ohne Freilauf – erlernen konnte. Amelie Rother plaudert im Kapitel Das Damenfahren aus dem Nähkästchen, mit welchen Gemeinheiten die Leute sie als Radfahrpionierin in Berlin und anderswo überzogen haben. Die Vorurteile gegenüber den Rad fahrenden Damen waren haarsträubend. Speziell die Hosen tragende Radlerin schürte Ängste vor der Vermännlichung der Frau oder sogar einer Rollenumkehr. Bis ich für dieses Buch recherchiert habe, war mir gar nicht bewusst, dass das Fahrrad eine solche Emanzipationsmaschine war. Rosa Mayreder, eine österreichische Frauenrechtlerin, sagte 1905: Das Bicycle hat zur Emanzipation der Frau in den höheren Gesellschaftsschichten mehr beigetragen als alle Bestrebungen der Frauenbewegung zusammen. Warum? Wie Lulu, Fanny, Ida und Änny hatten viele junge Frauen und Mädchen dadurch auf einmal die Möglichkeit, auf eigene Faust loszufahren und die Welt zu erobern. Dass man ihnen diese neu gewonnen Freiheit nicht zugestehen wollte, zusammen mit den damit einhergehenden Anfeindungen, ließ sie enger zusammenrücken. Vor allem die Damen der gehobenen Gesellschaft – denn erst in den Zwanzigerjahren konnten sich Frauen aus einfacheren Verhältnissen Fahrräder leisten – machten sich daraufhin erste Gedanken zur Gleichberechtigung.

Welche Inszenierungen damals in den vielen Theatern und Bühnen Münchens zu sehen waren, stand jeden Tag in der Zeitung. Wie es dagegen hinter den Kulissen im Münchener Schauspielhaus aussah, habe ich dem Theater­Almanach oder vielmehr einer Denkschrift zur Feier der Eröffnung desselben aus dem Jahr 1901 entnommen. Ein bisschen was dazuerfinden musste ich dennoch. Ob Änny dort als Darstellerin wirklich nicht bezahlt worden wäre, kann ich nicht mit letzter Sicherheit sagen, aber im Jahr 1895 beschäftigte sich ein gewisser Dr. Paul Schlenther eingehend mit dem Frauenberuf im Theater. Seine Abhandlung erschien in einer Heftreihe mit dem Titel Der Existenzkampf der Frau im modernen Leben und zeigt noch einige Missstände mehr auf als die, von denen Änny ihrer neuen Freundin Fanny auf der Balustrade berichtet.

Das wunderbare Menü, das Lulu mit den Gästen der Abendgesellschaft im Hause von Ranke nach ihrem ersten Fahrschulabenteuer genießt, ist eine Empfehlung aus Speemanns goldenes Buch der Sitte, das 1901 erschien. Graf und Gräfin Baudissin geben darin Ratschläge für alle Lebenslagen. Man hat heute ja keine Vorstellung mehr davon, wie viele Fettnäpfchen es damals zu umschiffen galt.

Wer sich darüber hinaus für exquisites Essen interessiert, sollte einen Blick in Ernst von Malories Das Menu aus dem Jahr 1888 werfen. Dort findet man auf fast fünfhundert Seiten nicht nur nach Monaten und Anlässen geordnete Menüfolgen, sondern auch echte historische Menüs, wie zum Beispiel das souper zum Ball des Vizekönigs von Ägypten bei der Eröffnung des Suezkanals 1869, ein Festessen zu Ehren des Deutschen Kaisers in Hamburg 1881 oder ein dîner Ludwigs VII, von Frankreich im Jahr 1129.

Eine Vorstellung davon, wie groß die Verzweiflung bei vielen Frauen war, die wie Elsa ungewollt schwanger wurden, liefern Prof. Dr. L. Lewins und Dr. M. Brennings 1899 in ihrem Handbuch für Ärzte und Juristen namens Die Fruchtabtreibung durch Gifte und andere Mittel. Darin sind so viele Fallbeispiele von unterschiedlichen missglückten und auch für die Mutter tödlich verlaufenden Abtreibungsversuchen beschrieben, dass man es kaum glauben kann. Der von Elsa durchgeführte Eihautstich wurde quasi zu jeder Zeit und überall auf der Welt angewandt.

Und Verhütung? Da wurde seit der Antike so einiges ausprobiert: Gemische aus Krokodilkot, Amulette, Herausniesen, mit allen möglichen Pflanzensuden getränkte Schwämmchen, Scheidenspülungen et cetera pp. kamen zum Einsatz. Mit Hilfe von Scheidenpulverbläsern sowie Ballon- und Mutterspritzen gelangten alle möglichen Toxine, Säuren und Laugen in den Uterus. Zwischen Abortiv- und Verhütungsmittel unterschieden wurde kaum, dafür das Blaue vom Himmel herunter versprochen. Einigermaßen sichere Verhütungsmittel gab es erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts, als die seit Urzeiten bekannten Kondome aus tierischen Membranen, Baumwolle oder Leinen endlich eine Haut aus Gummi bekamen. Auch das Diaphragma feierte Ende des 19. Jahrhunderts seine endgültige Geburtsstunde. Ein Segen für die Frauen, könnte man meinen, doch um 1900 herum, als das nationalstaatliche Interesse an einer hohen Bevölkerungszahl wuchs, wurden der Vertrieb von Verhütungsmitteln sowie die dazugehörige Werbung mit Zuchthaus bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe bis zu tausend Mark belegt. 

 

Was war die Folge? Die Zahl der von ledigen Müttern geborenen Kinder, die irgendwie betreut werden mussten, wurde nicht kleiner. Zum Glück hat eine gewisse Petra Sulner ihre Dissertation über Strategien zum Umgang mit der Problematik ungewollter Kinder unter besonderer Berücksichtigung der historischen Konstellation in München geschrieben. Darin fand ich viele wichtige Informationen zum Kostkinderwesen und zur erhöhten Sterblichkeit bei Kost- und Haltekindern.

 

Womit wir auch schon beim Thema Frühgeburten wären. Zu Lulus Zeit gab es längst nicht die medizinischen Möglichkeiten wie heute. Die künstliche Beatmung mit Sauerstoff hatte ihre Geburtsstunde erst 1907, als ein gewisser Heinrich Dräger in Lübeck das Patent für den Pulmotor anmeldete. Fakt ist jedoch – und das hat mich wirklich überrascht –, dass auch damals extreme Frühgeburten wie Tilda überlebten. Sehr selten zwar, aber es passierte. Im Lehrbuch der Geburtshilfe zur wissenschaftlichen und praktischen Ausbildung für Ärzte und Studierende von Johann Friedrich Ahlfeld aus dem Jahr 1898 ist von einem ähnlichen Fall die Rede. Eine speziell auf Säuglinge spezialisierte Abteilung gab es im Haunerschen Kinderspital aber erst über zehn Jahre später.

Das Jahrhunderthochwasser von 1899 hat München voll erwischt und schlimm verwüstet. Die Zeitungen waren – gut für mich – voll davon. Seither hat man viel für den Hochwasserschutz getan, weshalb ein Jahrhundertereignis wie damals München heutzutage dank der Renaturierungen und des Sylvensteinspeichers kaum etwas anhaben kann.

Was Frauenstudium und Mädchengymnasium anbelangt, war die Situation in Deutschland seinerzeit eine Katastrophe. Die Zahlen, die im Kapitel vom Ersten Bayerischen Frauentag genannt sind, stammen aus einem Artikel der Münchener Post vom 31. November 1899, alle Details zum Frauentag aus Ingvild Richardsens Frei und gleich und würdig – Die Frauenbewegung und der Erste Bayerische Frauentag 1899. Nur bei Ika Freudenbergs Eröffnungsrede habe ich ein Zitat aus Elisabeth von Heykings Bestseller Briefe, die ihn nicht erreichten aus dem Jahr 1903 dazu gemogelt. Das mit dem Warten, bis sich endlich eine Tür öffnet, hat mir einfach zu gut gefallen, und es passte so schön zu Lulus Liebschaft mit Thaddy. Andauernd verzehrte sie sich nach ihm, das dumme Ding!

Ein gewisser Thaddäus Robl aus dem alten München hat übrigens verblüffende Ähnlichkeit mit Lulus Thaddy. Das mit der Gehbehinderung und dem Gehirnthyphus ist nicht erfunden. Wer sich die Mühe macht, den echten Thaddy zu googeln, wird feststellen, dass es da noch einige Parallelen mehr gibt.

Was mich sofort an das Innenleben der Bavaria denken lässt, huch, und an die Ruhmeshalle. Was glaubt ihr – denn über das Sie sind wir doch längst hinaus –, wie viele Frauen im Schatten der bronzenen Personifikation des Landes Bayern wohl in Leo von Klenzes Säulenhalle hängen? Schätzt mal! 

Es sind vier: Lena Christ, Clara Ziegler, Emmy Noether und Therese von Bayern. Muss ich dazu noch mehr sagen?

Trotz möglichst akribischer Recherche schleichen sich Fehler ein, das ist fast unvermeidbar. Dafür bitte ich an dieser Stelle um Verzeihung. 

Vielen Dank für das Interesse.

Anregungen und Grüße jederzeit gerne:

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