Fiktion & Wirklichkeit
Wahr oder erfunden?
Auch Goldene Zeiten erzählt eine fiktive Geschichte, die wieder von vielen wahren Begebenheiten und Persönlichkeiten inspiriert ist. In fast jeder Szene steckt irgendwo ein wahrer Kern. Mal ist er kleiner, mal größer. Viele Besuche in Münchner Archiven und der Bayerischen Staatsbibliothek waren dafür nötig, unzählige vergilbte alte Seiten wurden umgeblättert und gescannt, etliche digitale Sammlungen durchsucht.
Tausend Dank an dieser Stelle an alle, die Schriftgut, Film-, Bild- und Tonmaterialien und elektronisches Datenmaterial aller Epochen sammeln, erschließen und bewahren oder dafür bezahlen, dass dies geschehen kann. Denn wenn einem bei der Recherche die passende Anekdote aus einer Zeitung von damals vor die Nase kommt oder man haargenau die richtige Literatur findet, ist das ... na ja, wie singt es eine bekannte deutsche Rapperin so schön? Lieben wir!

Nymphenburger Volkspark 1900 (Stadtarchiv: DE-1992-FS-NL-KV-1872
Aber fangen wir im OP-Zimmer der chirurgischen Abteilung des Haunerschen Kinderspitals an, das es – um es gleich vorwegzunehmen – 1902, als die Reise für meine Heldinnen beginnt, noch gar nicht gab. Es wurde erst ein Jahr später eingerichtet, als der orthopädische Turnsaal in die ehemalige Zentralimpfanstalt verlegt wurde.
Die Narkologie hatte Anfang des 20. Jahrhunderts ebenfalls noch einen Weg vor sich. Dr. med. Benno Müller verfasste dazu ein sehr umfangreiches Werk, das 1905 unter dem Namen »Narkologie. Ein Handbuch der Wissenschaft« über allgemeine und lokale Schmerzbetäubung erschien. Darin sind nicht nur alle Stadien der Chloroformnarkose, mögliche Komplikationen und Maßnahmen bei Atemstillstand beschrieben, sondern da steht schwarz auf weiß auch Folgendes: Die Leitung derselben (gemeint ist die Narkose) wurde als lästiges Amt betrachtet und in den meisten Fällen dem jüngsten Assistenzarzt übergeben. Der dann hauptsächlich die Augen bei der Operation hatte und wenig gewissenhaft den Patienten überwachte, heißt es weiter. Auch Schwestern, Heilgehilfen und Studenten durften ran, wenn es sein musste.
Dass der gute Doktor Herzog die Chloroformnarkose bei Rahel Schander in Alleinverantwortung überlässt, war für die damalige Zeit sicher nicht ungewöhnlich. Es fand aber bereits ein Umdenken statt. In England wurden Narkosen damals schon von darauf spezialisierten Ärzten durchgeführt, und im Kaiserreich, so sagte es Dr. Benno Müller auf Seite 224 voraus, wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis man dem Beispiel folgt.
Sehr wahrscheinlich stand im November 1902, als der Atemstillstand bei Rahel eintritt, im Kinderspital keine Sauerstofftherapie als lebensrettende Behandlung anästhesierter Patienten zur Verfügung. Die dafür unverzichtbaren Reduzierventile wurden zwar seit 1889 in größerem Umfang vom Drägerwerk in Lübeck hergestellt, aber erst ab 1901/02 in die internationale Medizintechnik eingeführt. Es hakte außerdem noch an der Herstellung von ausreichenden Mengen Sauerstoff. Ein Problem, das mit dem Linde-Verfahren gelöst werden konnte. Die weltweit erste Anlage zur industriellen Luftzerlegung ging 1902 in Betrieb. Ab da konnte Sauerstoff preisgünstig hergestellt werden. In Pullach übrigens. Tatsächlich wurden somit im Jahr 1902 die zwei entscheidenden Schlüsseltechnologien entwickelt, die der Sauerstofftherapie zum Durchbruch verhalfen, wie Christina Koßobutzki in ihrer Doktorarbeit »Die Geschichte der inhalativen Sauerstofftherapie« schreibt.
Für Rahel kam der Durchbruch trotzdem zu spät. Zwar berichtet Dr. Franz von Winckel bei seiner Antrittsrede als Rektor der Ludwig-Maximilians-Universität am 22. November 1902 – also nur kurz nach dem Vorfall mit Rahel –, dass die kompliziert konstruierten Apparate von Dr. Roth-Dräger, mit denen man Chloroform mit Sauerstoff vermischt verabreichen und den Patienten außerdem vor und nach jeder Chloroformnarkose reinen Sauerstoff zuführen konnte, bereits schon öfter Anwendung fanden, aber ohne dass sich bis jetzt ein abschließendes Urteil über seine Leistungen abgeben ließe.
Auch mit den Narben musste Rahel leben. Bis jemand auf die Idee kam, die notwendigen Schnitte zur Freilegung des Operationsgebietes bei Kieferankylosen hinter dem Ohr zu setzen, sollte es noch eine ganze Weile dauern. Erst 1922 beschreibt ein gewisser Prof. Bockenheimer aus Berlin in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift, dem Pendant zur Münchener Medizinischen Wochenschrift, sein neues Verfahren.
In der Medizin war um die Jahrhundertwende vieles in Bewegung. Neue Therapieformen, Behandlungs- und Operationsmethoden, auch Medikamente wurden entdeckt und eingeführt. Nicht immer stehen beim Schreiben Quellen für genau den richtigen Zeitabschnitt zur Verfügung. Ungenauigkeiten, vielleicht sogar Fehler, lassen sich deshalb nicht vollends vermeiden. Außerdem ist bei mir der medizinische Sachverstand im Verhältnis zur Fantasiebegabung recht unterproportional ausgeprägt, weshalb ich sehr dankbar bin, dass Dr. Clarissa Bill mir bei allen medizinischen Szenen, wann immer es nottat, auf die Finger klopfte. Ihr Medizinstudium liegt noch nicht lange zurück, sie kann sich außerdem formidabel in meine Heldinnen hineinversetzen. Kurzum, ihr Input ist Gold wert! Werte Frau Doktor, ich hoffe, du weißt, wie dankbar ich dir bin.
Apropos Dankbarkeit. Heutzutage wird ja gerne über die ausufernde Bürokratie geschimpft. Ich bin sehr froh, dass diese eine lange Tradition hat und der bayerische Beamte seit jeher alles fein säuberlich aufgeschrieben hat. Wie viele männliche und weibliche Personen bei Razzien im Jahr 1902 aufgegriffen wurden, wie viele davon aus München stammten oder eben nicht und natürlich wo die Razzien stattfanden. Unter anderem im Justizpalast! Jaja, ich wollte es auch erst nicht glauben, aber entsprechende Notizen in der Allgemeinen Zeitung und im Generalanzeiger der Münchner Neuesten Nachrichten haben es bestätigt und noch ein paar schöne Ausschmückungen beigesteuert. Dort heißt es: In den Verhandlungssälen und auf den Gängen des Justizpalastes ... hatte sich eine Anzahl höchst zweifelhafter Elemente eingefunden, unter welchen zwei Kriminalschutzleute Musterung hielten und einem Dutzend hiervon zur kostenlosen Beförderung mittels Zeiserlwagens in das bekannte rote Haus an der Weinstraße verhalfen.
Das gesellschaftliche Parkett, das junge Frauen von Stand um 1900 herum bewältigen mussten, war hauchdünnes Eis. Es gab so viele Vorschriften, so viele Regeln, man glaubt es nicht. In dem Werk »Speemanns goldenes Buch der Sitte«, das 1901 erschien, geben Graf und Gräfin Baudissin Ratschläge für alle Lebenslagen. Im Kapitel »Das Benehmen in der Gesellschaft« steht wortwörtlich: »Nie dürfen wir zeigen, daß uns die Erzählung eines andern vor tödlichster Langeweile einer Dublette von Schlaganfällen nahe bringt.« In einem anderen Kapitel geht es um das alleinstehende Mädchen. Als einzig schickliche Berufe werden genannt: Schriftstellerin, Malerin, Zeichenlehrerin, Musikerin, Sängerin, Lehrerin, Staatsbeamtin, Krankenpflegerin. Welchen moralischen Gefahren eine Schauspielerin ausgesetzt ist, bleib ebenfalls nicht unerwähnt. Im Übrigen ist das Kapitel »Visite machen« besonders lang geraten. Sicher war Lulu nicht die einzige junge Frau, der davor graute.
Tatsächlich standen der Bau und mehr noch die Inbetriebnahme des neuen Diphtheriepavillons des Dr. von Haunerschen Kinderspitals unter keinem guten Stern. Alle erwähnten Schwierigkeiten und Verzögerungen haben sich tatsächlich so zugetragen, und Professor von Ranke muss sich ganz fürchterlich darüber geärgert haben. In seinen Jahresberichten – aus denen im Übrigen alle Infos zu Baumaßnahmen und Betrieb des Kinderspitals stammen – kann man seine Frustration meist nur zwischen den Zeilen der nüchternen Berichterstattung erahnen. Nur einmal, im Jahresbericht 1901, wird er etwas deutlicher: Über dem Diphtheriepavillon waltet ein eigentümliches Verhängnis, schreibt er.
Die Residenzstadt München – oder wenigstens ein Teil da- von – war süchtig nach Kunst. Isadora Duncan beschreibt in »Mein Leben – meine Zeit« die Stadt als einen wahren Bienenstock künstlerischer und intellektueller Betätigung: die Straßen mit Studenten überfüllt, jedes Mädchen mit einer Mappe oder einer Notenrolle unter dem Arm, alle Auslagefenster wahre Schatzkammern seltener Bücher, alter Bilder und fesselnder Neuerscheinungen. Ihr Debüt im Künstlerhaus im Jahr 1902 nannte sie selbst die größte Sensation Münchens seit vielen Jahren. Dabei musste sie Franz von Stuck tatsächlich erst überzeugen, dass sie das Künstlerhaus mit ihrer Darbietung nicht entweihte, sondern von hier aus nun der moderne, freie Tanz in die Welt aufbrach. Miss Duncans Mission war, den Körper der Frau von allen Zwängen zu befreien.
Otto Normalverbraucher konnte sich das sündteure Billett für die erste Barfußtänzerin der Welt im Künstlerhaus natürlich nicht leisten. Er besuchte stattdessen die Brettlbühnen, das Volkstheater, einfache Wirtshäuser oder ging wie Josef und Elsa mit dem Panorama International in der Kaufinger Straße auf Weltreise. Welche Zyklen in welchem Münchner Guckkasten gezeigt wurden, stand jede Woche in der Zeitung. Die stereoskopischen Bildserien aus nahen und fernen Ländern mit ihren kleinen Bewegungen, die einen sehr räumlichen Eindruck beim Zuschauer erweckten, waren damals sehr beliebt. Um 1910 gab es auf der Grundlage von Lizenzvergaben Filialen in etwa zweihundertfünfzig Städten. Über 100 000 stereoskopische Bilder zirkulierten in Ringleihe. Auch wenn es bereits Kinematografen gab, vom Kinozeitalter war man damals noch weit entfernt. Wer ein original erhaltenes Kaiser-Panorama sehen will, muss das Münchner Stadtmuseum besuchen – wenn es generalsaniert in ein paar Jahren wieder öffnet.
Trambahnschienenritzenreinigerinnen. Ein schönes Wortungetüm, oder? Anfang des 20. Jahrhunderts gab es in München vierundzwanzig solche Ritzenschieberinnen, die über Nacht den Dreck aus den Gleisritzen kratzten. Kurios fand ich, dass mit Aufkommen der Automobile, die nachts noch schlecht beleuchtet durch die Stadt fuhren, immer öfter Ritzenschieberinnen verletzt wurden. Weniger kurios, sondern recht typisch ist, dass die fleißigen Damen pro Arbeitstag nur zwei Mark verdienten, die zweiundzwanzig männlichen Streckenarbeiter aber das Doppelte, und dass ähnliche Ungerechtigkeiten nach über hundert Jahren immer noch nicht ausgemerzt sind – vor allem in Bayern. Laut Süddeutscher Zeitung arbeiten im Freistaat weibliche Beschäftigte im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen siebenundsiebzig Tage (!) umsonst. Was sich die einzige Ritzenschieberin, die es heutzutage in München noch gibt, da wohl denkt, wenn sie an der Kreuzung Seerieder-/Einsteinstraße von ihrem Hauseck auf diese Ungerechtigkeiten herunterschaut?
Erfreulicher ist, dass sich die Pappeln in der Lindwurmstraße, mit denen Elsa ihr Studium gleich zweimal hätte finanzieren können, bis ins Hier und Jetzt auswachsen durften und noch in großer Zahl entlang der Straße stehen. Ungültig geworden ist dagegen die Nummer der Freiwilligen Rettungsgesellschaft, 1396, die jemand nach Josefs Angriff auf Adolf verständigen wollte. Bei Unfällen in den nördlichen Stadtbezirken holte man hingegen die Freiwillige Sanitäts-Hauptkolonne München. Die waagrecht verlängerte Landsberger Straße war die Trennlinie.
Womit wir schon zum Schachterleis weiterschlittern können. Für die eislaufbegeisterten Münchner war es Liebe auf den ersten Blick. Die Tagespresse überschlug sich 1893, ein Jahr nach Fertigstellung, schier vor Lobpreisungen. Neben Paris war München die einzige Stadt auf dem europäischen Kontinent, die sich einer solch märchenhaften Eisbahn rühmen durfte, und die bayerische war sogar noch größer als die französische. Ingenieur Unsöld konnte sich vor Aufträgen kaum retten und sollte auch in Berlin, Breslau oder Wien Ähnliches bauen. Dass eine solche Erfindung die Skeptiker auf den Plan rief, weil sie annahmen, die Gase aus der künstlich hergestellten Eisfläche könnten giftig sein, verwundert nicht, denn wie heute gab es auch damals Menschen, die gegen jeden Fortschritt wetterten. Gegen die Tram, gegen Elektrizität, gegen Fahrräder, gegen Frauenbildung etc.
Ännys Verhaftung wegen Straßenskandal soll übertrieben sein? Mitnichten. Den sehr ähnlich gelagerten Fall der Therese Sch. führt Sybille Krafft in »Zucht und Unzucht – Prostitution und Sittenpolizei im München der Jahrhundertwende« an. Der schuldig gebliebene Beischlaf, die öffentlichen Beschimpfungen, die Konsultierung des Polizeidirektors, die Verhaftung, die amtsärztliche Untersuchung, die Androhung der Ausweisung – alles wahr und in den Münchner Polizeiakten belegt. Tatsächlich hat sogar ein Redakteur der Münchener Post geholfen, aber ob das wirklich Eduard Schmid – von 1919 bis 1924 Bürgermeister der Stadt München – war, darf bezweifelt werden. Redakteur bei der Münchener Post war er aber.
Wie die oben erwähnte Therese haben es auch die englische Burlesque-Sängerin Lilly Wright und die französische Soubrette Ellen d’Hiver in die Polizeiakten geschafft. Von beiden gibt es Protokolle, von Überwachungsbeamten nach Besuchen in gewissen Etablissements zu Papier gebracht. Ännys brisantes, nur geringfügig abgeändertes Couplet »Konsequenzen« wurde im Jahr 1907 von der Zensurbehörde verboten und ebenfalls zu den Akten genommen, denn sittlich anstößige Lieder und auch alles Anstößige in Bezug auf Kleidung, Bewegung, Gesten, Mienen war untersagt. Nur dass der Polizeidirektor Ludwig Ritter von Meixner, im Buch Meittner genannt, bei Ännys Einschüchterung durch Schutzleute mitgemacht hätte, darüber steht nirgendwo nix und ist demnach auch bestimmt nicht wahr.
Ein Hoch auf die Recherche! Nach dem Leben selbst ist sie definitiv einer der besten Ideenbooster, manchmal aber echt nervtötend. Ännys Gefängnisaufenthalt beispielsweise stellte mich vor große Schwierigkeiten. Es gab nur wenig Material, ich fand nichts Belastbares darüber, wo man nach so einem Vergehen eingesperrt wurde. Schlussendlich brachte eine Zeitungsnotiz vom März 1903 zum Prozess gegen Elise Heusler, die wegen Vergiftung angeklagte Stiftsvorsteherin, den ersten Hinweis. Dort stand nicht nur, wie haarsträubend ihre Verhandlung verlief und weshalb sich Änny solch große Sorgen machte, sondern auch, dass sie vom Gerichtsgebäude in einer Droschke zurück ins Gefängnis an der Baaderstraße gebracht wurde. Jippie! Demnach könnte es Änny ähnlich ergangen sein, oder? Dass ihr Aufenthalt in Gefangenschaft kein Zuckerschlecken war, habe ich vermutet. Richtig greifbar wurde es erst nach der Lektüre von Dr. Fritz Auers Abhandlung »Zur Psychologie der Gefangenschaft«, die 1905 erschien und in der nicht nur Entlassene aus Gefängnissen und Zuchthäusern ihre Erfahrungen schildern, sondern auch solche, die nur eine Untersuchungshaft hinter sich hatten. Das Buch über die Stadtgärtnereien gehörte aber vermutlich nicht zum Bestand der Gefängnisbücherei, die zwischen Seiten und Zeilen gekritzelten Nachrichten von gemeinsam einsitzenden Paaren hat es aber gegeben.
Womit auch schon John Haswell seinen großen Auftritt als Fannys ominöser Galan und Kontaktmann hat. Johns Geschichte ist sehr stark angelehnt an die eines gewissen Herrn C., ein Fall, den Sanitätsrat Dr. med. Magnus Hirschfeld in seinem Buch »Die Transvestiten – Eine Untersuchung über den erotischen Verkleidungstrieb« beschreibt. Noch vor der Jahrhundertwende gründete Hirschfeld das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee, die weltweit erste Organisation, die sich dafür einsetzte, sexuelle Handlungen zwischen Männern zu entkriminalisieren.
Von 1899 bis 1923 gab er außerdem die Zeitschrift »Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen« heraus – ein Plädoyer für die Verschiedenheit der Menschen. Nach seiner Auffassung waren die geschlechtlichen Zwischenstufen von Frauen und Männern, die er an physischen Merkmalen, Charakter und Begehren festmachte, angeboren und unveränderlich. Er beschrieb allein einundachtzig verschiedene geschlechtlich gemischte Grundtypen. Homosexualität gehörte zum erweiterten Normalitätsspektrum.
Die Recherche zu John bescherte mir zudem eine Kollateralerkenntnis mit Aha-Effekt. Bayern schaffte als erster deutscher Staat unter dem Einfluss Frankreichs die Bestrafung sexueller Handlungen zwischen Männer gänzlich ab. Am 16. Mai 1813 trat das vom Geheimen Rat Paul Johann Anselm von Feuerbach entworfene neue Strafgesetzbuch für Bayern in Kraft. Das Land hatte damit eine der modernsten strafrechtlichen Kodifikationen in Europa, die anderen Staaten als Vorbild diente. Allerdings kam es bekanntlich 1871 unter preußischer Führung zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs. Das Strafgesetzbuch von 1871 sah unter Paragraf 175 für widernatürliche Unzucht zwischen Männern eine Gefängnisstrafe und den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte vor. Damit wurde Homosexualität wieder in ganz Deutschland strafbar – auch in Bayern –, und dieser vermaledeite Homosexuellenparagraf wurde erst 1994 endgültig aufgehoben.
Im selben Jahr dieser überfälligen Maßnahme gewann der FC Bayern München unter Trainer Franz Beckenbauer zum dreizehnten Mal die Deutsche Meisterschaft. Im März 1903 aber, als Fanny ihren Bruder auf dem Spielplatz – so hieß das damals – an der Clemensstraße zusammenstaucht, lagen solche Titel noch in weiter Ferne. Da hieß im Tor stehen noch Goal spielen, da verteidigten Full- und Halfbacks und für das Toreschießen waren die Forwards zuständig. Es wurden lediglich Stadtmeisterschaften ausgetragen, da fand der Entscheidungskampf um den Bayernpokal an der Clemensstraße in Schwabing statt und noch mischte der Münchner Fußball Club Bayern – kurz M. F. C. Bayern – nicht mal bei den Entscheidungsspielen um die Meisterschaft des Verbandes Süddeutscher Fußball-Vereine mit und konnte damit auch nicht an den Titelkämpfen des Deutschen Fußballbundes teilnehmen, weil da nur der Süddeutsche Meister auflaufen durfte. Der Karlsruher FV dominierte bis zum Ersten Weltkrieg das Fußballgeschehen in Süddeutschland. Auch der Freiburger FC war eine Hausnummer. Erst nach dem Krieg, erstmals in der Saison 1925/26, gelang es den Bayern, sich in die Siegerliste der Süddeutschen einzutragen und feierte damit Premiere bei der Deutschen Meisterschaft, wo man im Achtelfinale ausschied. Zwei Saisons später erreichte man schon das Halbfinale, und im Spieljahr 1931/32 wurde der FC Bayern erstmals Deutscher Meister. Über dreißig Jahre vergingen, bis man diesen Titel in der Saison 1968/69 erneut erringen konnte. Doch ab da – wir wissen es alle – gab es kein Halten mehr.
Umso erstaunlicher ist, dass die genaue Lage der Ur-Spielstätte des FC Bayern bis 2018 unbekannt war. Da musste sich erst ein Fußballnarrischer der Kurt-Landauer-Stiftung auf die Suche machen: Georg Mooshofer. Dank gründlicher Recherche, Vor-Ort-Begehungen, Besuchen in Archiven und Vermessungsämtern ist er fündig geworden. Der Kurt!, das offizielle Magazin der Kurt-Landauer-Stiftung, widmete der Wiederentdeckung des ersten Fußballplatzes des FC Bayern München eine ganze Ausgabe und hat mir schönen Stoff für die Szene mit den Paintner-Zwillingen geliefert. Eine Gedenktafel in der Clemensstraße 50 erinnert seither an diese Anfänge. Auch daran, dass Gerd Müller seit 2023 vor der Allianz-Arena als Statue für die Fans jubelt, war Georg Mooshofer maßgeblich beteiligt. Außerdem weiß er alles über die Roten, auch dass sie in den Gründungsjahren noch in Weiß-Blau gespielt haben. Merci, Georg!
Die erste Tour de France begann nicht in Paris, sondern im nahen Montgeron, weil der Start in der Stadt nicht genehmigt wurde. Thaddy Robl, das reale Vorbild für Lulus Thaddy, war nicht bei der ersten Tour dabei. Der Münchener Joseph Fischer dagegen schon. Er war der Einzige von zwei deutschen Teilnehmern, der im Prinzenpark-Stadion in Paris ankam. Wahr ist auch, dass viele etablierte Pedaleure sich erst nach einer Preisgelderhöhung durchringen konnten, bei diesem Höllenritt durch die Republik mitzumachen. Tatsächlich passiert sind Thaddy Robls schwerer Sturz in Magdeburg, sein Sieg am darauffolgenden Tag und der legendäre Spruch »A Viech muass ma sei!«, den er hinterher rausgehauen hatte.
Ach ja, das weltbekannte Restaurant La Tour d’Argent am linken Ufer der Seine in Paris, das für seine Entengerichte bekannt ist und wohin der erfundene Vanderbilt Ida und Lulu ausführen wollte, soll angeblich bereits im Jahr 1582 von einem Koch gegründet worden sein. Dort pressen die Kellner noch heute am Tisch den Saft aus Karkasse und Leber der Ente, die Weinkarte ist zehn Zentimeter dick, und im Weinkeller lagern angeblich knapp 440 000 Flaschen.
Endlich kommt Änny wieder frei. In das Sommerfest des Deutschen Touring-Clubs beim Flaucher in den Isaranlagen hätten die Freundinnen nach ihrer Entlassung im Juli 1903 also wirklich hineingeraten können. Die feenhafte Beleuchtung, das Streichkonzert, das Feuerwerk, ist alles so passiert. Dass es den Kocherlball mal gab, wissen heutzutage viele Münchner, feierte er doch 1989 seine Auferstehung und findet seither wieder jedes Jahr einmal im Juli ab sechs Uhr früh statt. Für meine Heldinnen aber war es höchste Zeit, mal hinzugehen und sich zu amüsieren, denn schon ein Jahr später, 1904, wurde das bunte Treiben rund um den Chinesischen Turm aus Mangel an Sittlichkeit von der Obrigkeit verboten. Allerdings war der Kocherlball da wohl auch schon nicht mehr das, was er noch vor der Jahrhundertwende war, als sich bei schönem Wetter jeden Sonntagmorgen bis zu fünftausend Hausangestellte dort trafen. Der berühmt-berüchtigten Ratsch-Kathl stieß das sauer auf, sie prangerte das wenig regionale Bewusstsein der Münchner an und formulierte es am 16. April 1904 gewohnt drastisch: »Im Englischen Garten ging es bekanntlich zu jenen Zeiten, wo München noch nicht so zünftig angepreußelt war, an schönen Sommer-Sonn- und Feiertagen hoch her, schon das frühe Morgengrauen versammelte im Chinesichen Turm alle Kocherl und dienstbaren Geister der Stadt. [...] Das war damals, als in München noch Kraft und Saft vorhanden war und die frechen Saububen, wie sie heute verlumpt und total verkommen, müßig herumlugern, noch in den Schranken der Polizei gehalten waren. [...] Unser sogenanntes Volk, mit intensiver Begehrlichkeit zwar ausgestattet, aber dafür auch roher und dümmer wie jemals, nimmt mit solchen Kleinigkeiten nicht mehr vorlieb, es muß an Sonn- und Feiertagen in aller Welt herumzigeunern, es muß in der Herrgottsfrühe schon in die entferntesten Himmelsgegenden hinausradeln und mit der Eisenbahn hinausfahren. Es muß Geld draufgehen, obwohl das bodenlos dumme Gesindel sich seinen Rausch, den es draußen herholt, auch hier ansaufen könnte, wodurch das Geld doch wenigstens hier bliebe. Da legst dich nieder!
Schunkeln wir uns also lieber weiter zum Hauptsonntag des Münchner Oktoberfestes im Jahr 1903, wo die Besucher noch längst kein Dirndl trugen und es auch noch keine Biertische im heutigen Sinne gab. An dem aber Prinzregent Luitpold traditionell ein recht umfangreiches Programm abzuspulen hatte, von dem die Zeitungen ausführlich berichteten. Ob es die Hexenschaukel 1903 gegeben hat, bin ich mir nicht ganz sicher, aber die anderen Attraktionen waren ebenfalls in der Presse erwähnt. Dass dagegen der gute Papa Geis bei der Bräurosl wirklich auf die Bühne stieg, muss unbedingt bezweifelt werden. Eins seiner Couplets war aber überaus gut dazu geeignet, den Freundinnen in Erinnerung zu rufen, dass Änny auf offener Straße eine etwas abseitige Einnahmequelle vorgeworfen wurde.
Womit wir uns nun allmählich dem Höhepunkt nähern: dem ersten Tag an der Universität. Grundvoraussetzung für die Immatrikulation war das Reifezeugnis eines deutschen humanistischen Gymnasiums oder eines deutschen Realgymnasiums. Was zu erlangen für ein Mädchen im Kaiserreich gar nicht so einfach war, denn höhere Bildung war für Frauen nicht vorgesehen und der Verein zur Gründung eines Mädchengymnasiums mühte sich seit Jahren vergeblich, diesen Missstand aus der Welt zu schaffen.
Dass Lulu ab Herbst 1900 die ersten Gymnasialkurse für junge Damen in München besuchen konnte, war ein echter Glücksfall. Eigentlich war es beschlossene Sache, solche privaten Kurse übergangsweise anzubieten, aber nur wenige Monate vor Schuljahresbeginn lehnte der Verein die entsprechenden Anträge von Mitgliedern ab. Weil dies nicht dem eigentlichen Vereinsziel – der Errichtung eines staatlich genehmigten Vollgymnasiums für Mädchen mit dem Recht auf Ablegung der Abiturientenprüfung – entsprach. Vom angestrebten Vollgymnasium war man drei Jahre später, als Lulu, Fanny und die ersten echten Schülerinnen der Sickenberger-Kurse als Externe ihr Absolutorium ablegten, aber immer noch meilenweit entfernt. Erst 1911 erlaubte das Kultusministerium, Gymnasialkurse an Höhere Töchterschulen anzugliedern, die Prüfung mussten die Schülerinnen aber weiterhin in den Knabengymnasien absolvieren. Die ersten Abiturientinnen, die ihre Ausbildung an einem solchen Institut absolvierten und dort auch ihre Prüfungen ablegten, gab es in Bayern 1916 und noch mal drei Jahre später, ab 1919, durften Mädchen staatliche Knabengymnasien besuchen.
Lulu musste deshalb heilfroh sein, dass Gymnasialprofessor Sickenberger a. D. die Sache spontan ohne Vereinsunterstützung durchzog. So wurde sie zwar nicht ebenso fundiert und ausgiebig wie die Knaben, aber wenigstens in allen Prüfungsfächern eines humanistischen Gymnasiums unterrichtet. Religionslehre, Deutsch, Latein, Griechisch, Französisch, Geschichte, Mathematik und Physik. Die Anmeldezahlen hielten sich – überraschend für mich – in Grenzen. Im Herbst 1900 hatte Sickenberger nur vier Schülerinnen, darunter eine Agnes Sickenberger, die sicherlich mit ihm verwandt war und seine Motivation für seinen Vorstoß entsprechend befeuert haben dürfte.
Trotz des schleppenden Beginns markierten seine Kurse einen Meilenstein, denn die Vorbildung der Mädchen war eins der größten Mankos auf dem Weg an die Universität. Ein Haufen Umwege mussten gemacht werden. Ein harter Kampf war das. Definitiv. Die Oberen wollten und wollten nicht einsehen, dass die Zeit für ihre Töchter gekommen war.
Apropos. Eins von drei Aufsatzthemen für das Deutschabitur am 19. Juni 1903 an humanistischen Gymnasien lautete wirklich »Der Boden, worauf du stehst, mein Sohn, ist heilig. Er ist geweiht durch deiner Väter Schweiß und Blut.« Das war eine willkommene Steilvorlagen und hat für meine Zwecke perfekt gepasst.
Darüber, wie den Externen die Noten ihrer Abiturprüfungen bekannt gegeben wurden, konnte ich nichts finden. Dafür stammt die wohlwollende Aufsatzbewertung zu oben genanntem Thema, mit der Lulus Leistung im Deutschaufsatz so herausgehoben wird, aus den Akten des Wilhelmsgymnasiums München, von einem gewissen Musterschüler Lion Feuchtwanger, der sich später zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten im Literaturbetrieb mausern sollte. Das Klagelied über die Schulzeit und das Bild Münchens mit seiner zähen, dumpfigen und geistig nicht gut belüfteten Bevölkerung zeichnete Feuchtwanger allerdings erst viele Jahre später: in seinem Roman »Erfolg« von 1930.
Doch zurück zum Kampf, den die Töchter des Reiches, die doch genauso auf dem von Schweiß und Blut getränkten Boden ihres Heimatlandes stehen, auszufechten hatten. Die Petition, die Immatrikulation von Frauen betreffend, liegt im Original im Bayerischen Hauptstaatsarchiv vor. Dass sie tatsächlich im Palais Pringsheim verfasst und unterschrieben wurde, ist absolut unwahrscheinlich. Ich bin nur darauf gekommen, weil in Babette Steiningers Lebenslauf bei Ebert, »Zwischen Anerkennung und Ächtung – Medizinerinnen der Ludwig-Maximilians-Universität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts«, erwähnt ist, dass sich die Katia-Mann-Biografen Inge und Walter Jens fragten, ob sich Katia Pringsheim, die spätere Ehefrau von Thomas Mann, wohl je Gedanken über ihre Mitstreiterin Babette Steininger gemacht hatte, die im selben Jahr wie sie am Wilhelmsgymnasium zum Abitur antrat, aber scheiterte. Wohl eher nicht. Mir aber gefiel der Gedanke außerordentlich gut, dass Katia verstand, dass Mädchen wie Babette, die wie Fanny aus Ortenburg in Niederbayern stammte und deren Vater Postbeamter war – na, klingelt’s? –, ganz anders als sie von jeder Bildung ausgeschlossen waren.
Über Babette Steininger wird in Ebert weiterhin berichtet, dass sie im Jahr 1902 erst nicht als Hörerin in München zuge- lassen wurde, weil ihr Abschluss in Karlsruhe nicht anerkannt wurde. Es muss vor dem Verfassen der Petition aber dann doch noch geklappt haben, denn sie ist auf dem Originalschriftstück als Hörerin der Medizinischen Fakultät aufgeführt.
Ob Marie Willführ wirklich an diesem Tag im November 1902 die Feder geführt hat, weiß ich nicht hundertprozentig, aber ihre Unterschrift ähnelt sehr stark der Handschrift, mit der auch der Rest der Petition niedergeschrieben wurde. Und weil ich wirklich sehr großen Respekt vor diesen ambitionierten Frauen habe, die es so viel schwerer hatten als wir, muss ich sie einzeln hier aufführen:
Als Hörerinnen der Philosophischen Fakultät unterschrieben Ida Limm, Liana von Renauld-Hellenbach, Katia Pringsheim, Johanna Maas und Lilli Wedell. Als Hörerinnen der Medizinischen Fakultät setzten Grete Schüler, Johanna Danziger, Marie Willführ, Marie Boehm, Babette Steininger und Fanny Obermaier ihre Namen unter ihre Forderungen. Nur der Vollständigkeit halber: Aspirantinnen auf ordentliche Immatrikulation gab es nicht, aber irgendwie musste ich Lulu und Elsa schließlich unterbringen.
Ob das Bittschreiben dieser jungen Damen den Anstoß gab, dass Prinzregent Luitpold am 21. September 1903 das Frauenstudium allergnädigst zu genehmigen geruhte? Ein Tropfen im großen Fass des Lebens ist nichts weiter als ein Fliegenschiss, schon klar, aber was, wenn es der eine ist, der das Fass zum Überlaufen bringt? Jedenfalls zog Bayern im Jahr 1903 dank dieser Entscheidung mit Baden gleich und war das zweite Land im Kaiserreich, das Frauen zum Studium zuließ. Es folgten Württemberg, Sachsen, Thüringen, Hessen, Preußen und zuletzt Mecklenburg.
Wie die Petition ist natürlich auch dieses so wichtige Gesuch, das Anton von Wehner Prinzregent Luitpold in Hinterstein zur Unterschrift vorgelegte, im Original vorhanden. Dr. Ottmar Ritter von Angerer, im Rosenheimer Anzeiger vom 17. September 1903 als Hofrat von Angerer bezeichnet, hat in der Tat bei der Jagd im Rappenalptal bei denkbar schlechtestem Wetter als Einziger einen Hirsch erlegt, so wie er auch in Oberstdorf und Hinterstein zum Jagdgefolge des Prinzregenten gehörte. Dass Herzog sich bei ihm über den Ausgang des von Wehner’schen Vorstoßes erkundigte, liegt also durchaus im Rahmen des Möglichen.
Und nun ist er da, der so wichtige Moment für Lulu, Elsa und Fanny. Wie der erste Tag der ersten immatrikulierten Medizinstudentinnen an der Ludwig-Maximilians-Universität wohl ausgesehen hat? Ich habe keine Ahnung. Die Zeitungen berichteten darüber kein Wort – zumindest nicht die, die ich einsehen konnte. Fündig wurde ich in »Erlebte und gelebte Universität«, das von Rüdiger vom Bruch und Rainer A. Müller herausgegeben wurde. Darin berichtet Hans Carossa, ein Arzt, Dichter und späterer Gottfried-Keller- und Goethe-Preisträger, über seine erste Vorlesung als Medizinstudent. Das war zwar ein paar Jahre früher, aber da die Neue Anatomie noch nicht gebaut war und Prof. Dr. Rückert auch im Vorlesungsplan 1903/04 als Dozent für Deskriptive Anatomie I mit täglich einer einstündigen Vorlesung und Präparierübungen aufgeführt ist, dürfte es ziemlich sicher ähnlich abgelaufen sein. Vielleicht nicht gerade am ersten Tag des Semesters, aber für die Dramaturgie muss man auch mal Opfer bringen.
Im Wintersemester 1903/04 jedenfalls immatrikulierten sich dreißig Frauen an bayerischen Universitäten. Genau die Hälfte von ihnen für das Fach Medizin in München. Dies waren:
Franziska Albrecht
Laura Blum
Hedwig Burckart
Jenny Danziger
Sara Hoefer
Balbine Kaltenbach
Johanna Lewy
Elsa Merckle
Margarete Mühsam
Pauline Roelfs
Lili Salzberger
Johanna Schwan
Sally Simon
Babette Steininger
Johanna Suppes
Chapeau!